KI in der Psychotherapie – Wenn ChatGPT mit auf der Couch sitzt

Meriam Axtmann • 3. August 2025

Chancen, Risiken und warum künstliche Intelligenz keine echte Nähe ersetzt

 Künstliche Intelligenz hält Einzug in die Psychotherapie. Dr.-Ing. Meriam Axtmann über Chancen, Risiken und warum KI keine menschliche Nähe ersetzen kann.

KI im Therapieraum – meine Erfahrung
Neulich in meiner Praxis holt ein Klient sein Handy raus und las mir sein Therapieziel vor, nicht aus seinem Notizbuch, sondern aus seiner Unterhaltung mit ChatGPT.
Er hatte seine Anliegen mit einer künstlichen Intelligenz abgestimmt, bevor er überhaupt in die Sitzung kam.
Erstmal ein befremdliches Gefühl für mich.
Dieses Erlebnis zeigte mir: KI hat längst Einzug in die Psychotherapie gehalten. Manche Menschen gehen vielleicht gar nicht mehr zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten, weil sie glauben, dass Chatbots reichen. Andere treffen vorschnelle Entscheidungen, weil KI-Antworten in Sekunden kommen, während ihr innerer Reifungsprozess Wochen oder Monate bräuchte.

Die Psychotherapeutin Esther Perel warnt vor dem, was sie „artificial intimacy“ nennt, künstliche Intimität: Nähe ohne Körper, ohne Blickkontakt, ohne die feinen Signale, die menschliche Begegnung ausmachen.
Eine KI kann auf Worte reagieren aber nicht auf das Zittern in der Stimme, nicht auf den kleinen Lidzucker, nicht auf die Körperhaltung, nicht auf die verschränkten Hände, nicht auf den Blick und schon gar nicht auf die Tränen, die jemand zurückhält.

Von der Thermodynamik zur Sexualtherapie
Bevor ich Sexualtherapeutin wurde, promovierte ich in der Thermodynamik der Luft- und Raumfahrt. Ich habe Algorithmen entwickelt, um komplexe Korrelationen zu berechnen, neuronale Netzwerke trainiert, um Daten zu interpretieren, und mathematisch beschrieben, was „Singularität“ bedeutet. Die ersten Programmiersprachen, mit denen ich arbeitete, hatten ihren Ursprung in Pascal (1970er Jahre) – elegant, präzise, logisch.
Mein technisches Wissen hilft mir heute, die Chancen und Grenzen von KI in der Therapie zu verstehen: Information kann man berechnen, Knowledge bzw. Wissen entsteht nur im Dialog, in Beziehung, im Aushandeln von Sinn, in der Erfahrung.

Ray Kurzweil und der Wert des Menschen
Im Interview mit Die Zeit sagte der KI-Experte Ray Kurzweil, sinngemäß zumindest wie ich ihn verstanden habe: KI werde die gesellschaftliche Ordnung grundlegend verändern. Die Frage sei: Was ist der Mensch noch wert, wenn Maschinen ihn ersetzen können? Was ist der Wert des Menschen nach dem Neoliberalismus, wenn er nicht mehr an seine Arbeitskraft beigemessen wird?
Seine Antwort: Der Wert des Menschen werde in gemeinnützigen, zwischenmenschlichen Interaktionen neu verankert, dort, wo Maschinen nicht hinkommen.
Das ist doch beruhigend vor erst.
Genau hier liegt die Aufgabe der Psychotherapie: Räume zu schaffen, in denen nicht nur Information fließt, sondern Transformation geschieht, durch verkörperte, echte Begegnung.
Dennoch bringt die neue gesellschaftliche Ordnung sicherlich eine Menge Herausforderungen, die können wir kaum extrapolieren aus den geschichtlichen Ereignissen, denn so was wie KI hat die Menschheit noch nie erfahren.
Also wollen wir hoffnungsvoll kritisch bleiben.

Information vs. Knowledge
In der Physik ist die Unterscheidung klar: 
Information ist die geordnete Darstellung von Daten. 
Knowledge bzw. Wissen ist das tiefere Verständnis, das aus Erfahrung, Beziehung und Kontext entsteht.
Beides ist wertvoll, um uns die Welt zu erschließen, aber nur Knowledge/Wissen kann innere Veränderung ermöglichen.

Fazit: KI als Gast, nicht als Gastgeberin
Ich habe nichts gegen KI im Therapieraum, solange sie nicht vergisst, dass sie nur Gast ist.
Denn Information kann in Sekunden entstehen.
Transformation bzw. Veränderung ist und bleibt ein menschlicher Prozess. Und so hat jeder Mensch auch sein Tempo.
Veränderung will sich integrieren, auf kognitiver, emotionaler, verhaltenstechnischer und körperlicher Ebene. Unser Supercomputer "The Brain", unser Gehirn ist dafür gebaut. Und die Evolution auch des Gehirns in seiner Funktionalität ist nicht zu überlisten.
Unser Gehirn wird nachziehen müssen und die KI wird dabei Assistenz spielen ob in Form von einem Chip oder sonstige Möglichkeiten.

Lasst uns gespannt bleiben!

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